Online und in manchen Printmedien kocht die Gerüchteküche: Ein Maßnahmenpaket der EU mit der Bezeichnung „Fit for 55“ erregt Aufsehen. Reißerische Schlagzeilen und vehemente Dementi wechseln sich ab, sogenannte Faktenchecker (selbst selten genug neutral) haben Hochkonjunktur. Viele Immobilienbesitzer sind verunsichert. Was hat es damit auf sich?
EU verschärft Gebäudesanierungspflicht.
Bereits 2021, als die Bürger mit einem anderen Thema vollauf beschäftigt waren, verabschiedete die EU das „Europäische Klimagesetz“. Dessen vorrangiges Ziel ist es, Europa bis 2050 in allen Bereichen „klimaneutral“ zu machen. Das klingt sehr weit entfernt? Mitnichten, denn als primäres Zwischenziel wurde vereinbart, dass die CO2-Emissionen der EU-Mitgliedsstaaten bereits bis 2030 um 55 Prozent gegenüber denen von 1990 sinken sollen.
Hier knüpft das Energiemaßnahmen-Paket „Fit for 55“ an, zuletzt novelliert im Februar 2023. Gemäß den darin enthaltenen Vorschlägen sollen Wohngebäude bis 2030 die Energieeffizienzklasse E und bis 2033 die Effizienzklasse D erreichen. Noch handelt es sich dabei nur um Vorschläge – die aber durchaus bald Gesetzesrang erlangen könnten.
Während Neubauten sowieso schon strengsten Energiesparvorgaben unterliegen, zeichnet sich für deutsche Bestandsimmobilien ein schmerzhaftes Problem ab: Annähernd 40 Prozent von ihnen sind „alt“ und haben nach derzeitiger Einstufung den Energieverbrauchskennwert F oder schlechter.
So sollen die Sanktionen sein.
Kai Warnecke, Präsident des Eigentümerverbands Haus & Grund, warnt: „Für viele Gebäude der Energieklassen F und G wird eine Sanierung keine Option sein, der Ersatzneubau mindestens 1.200 Milliarden Euro kosten. Für viele private Eigentümer beendet die EU damit den Traum von den eigenen vier Wänden.“ Warnecke äußerte zudem starke Zweifel, dass sich die energetischen Mindestanforderungen bei zahlreichen Gebäuden überhaupt technisch umsetzen lassen und dass ausreichend handwerkliche Ressourcen zur Verfügung stehen. Die Ziele seien in den kurzen Zeiträumen kaum zu erreichen. Allein in Deutschland werden von den anstehenden Verschärfungen voraussichtlich etwa drei Millionen Bestandsimmobilien betroffen sein.
Darauf beziehen sich auch die Schlagzeilen, die von Nutzungsverbot oder gar Enteignung sprechen. Artikel 31 des EU-Vorschlags besagt dazu jedoch: „Die Mitgliedstaaten legen fest, welche Sanktionen bei einem Verstoß gegen die innerstaatlichen Vorschriften zur Umsetzung dieser Richtlinie zu verhängen sind. […] Die Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.“
Die EU selbst nennt somit gar keine konkreten Sanktionen, sondern überlässt die Ausgestaltung den Mitgliedsländern. Und es wird fleißig abgewiegelt – auf eine Anfrage der dpa antwortete die EU-Kommission etwa: „Unter keinen Umständen erwarten wir, dass jemand aus dem Haus geworfen wird, um Effizienzvorgaben umzusetzen.“ Frans Timmermans, EU-Klimaschutzkommissar und Vizepräsident der Kommission, betont auf Nachfrage der Zeitschrift „Capital“ ebenfalls ausdrücklich, der Vorschlag würde „niemanden enteignen, der sein Haus nicht saniere“. Schöne Worte, die beruhigen sollen. Nur: Weder Timmermans noch die EU-Kommission entscheiden das letztlich.
Welche Sanktionen werden in Deutschland gelten?
Wie werden also die Sanktionen in den einzelnen Mitgliedsstaaten der EU aussehen? Garantiert unterschiedlich, möglicherweise sogar sehr unterschiedlich. Die Vorgaben, dass sie „wirksam“, „verhältnismäßig“, aber insbesondere auch „abschreckend“ sein sollen, lassen erheblichen Interpretationsspielraum.
Das Bundesverfassungsgericht schreibt in seiner Pressemitteilung Nr. 31/2021, die sich auf ein Urteil vom 24. März 2021 bzgl. einer Verfassungsbeschwerde zum Klimaschutzgesetz bezieht, Folgendes: „Künftig können selbst gravierende Freiheitseinbußen zum Schutz des Klimas verhältnismäßig und verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein.“ Zwar hängt dieser rechtskräftige Beschluss nicht unmittelbar mit den oben erwähnten Sanktionen zusammen – er könnte aber durchaus als Begründung für so manche besonders „wirksame“ und „abschreckende“ Maßnahme dienen, sollte das politisch gewünscht sein.
Es mag jeder selbst beurteilen, ob dieses Szenario bei unserer derzeitigen Regierung Realität werden könnte oder ob sie das Gebot der Verhältnismäßigkeit respektieren wird.Unabhängig davon zeichnet sich aber auch im bestmöglichen Fall ab 2030 ein Problem bei nicht sanierbaren Immobilien ab, nämlich der Wertverlust aufgrund der Gesetzeslage. Das wäre dann zwar rechtlich gesehen keine Enteignung, faktisch käme dies einer solchen aber dennoch sehr nahe.
Quellen: bundesregierung.de, consilium.europa.eu, bundesverfassungsgericht.de, haufe.de, hausundgrund.de, capital.de, handelsblatt.de, dpa-factchecking.com, anwalt-suchservice.de, stuttgarter-immobilienwelt.de, spiegel.de